RICHARD LINDNER (1901 Hamburg - New York 1978) – Two (Étude pour "La Toilette")
• Knallige Komposition Lindners aus seiner Zeit in New York City
• Die Gestaltung bedient sich aus der US-amerikanischen Werbeästhetik und weist zugleich Gesellschaftskritik auf
• Lindner verschmilzt hier seine aktuellen Erlebnisse mit Erinnerungen an das Berlin der 1920er Jahre
„Die Zeit liegt fern, wie hinter einem Rauch. Ich schützte sie und sie ernährte mich. Es geht auch anders, doch so geht es auch.“
Bertolt Brecht, Die Dreigroschenoper
Die 1960er in New York City: Konsum! Konsum! Konsum! In grellen Farben leuchtet die Reklame auf den Straßen und den Zeitschriften. Alles scheint käuflich, vom kleinen Glück über großen Luxus bis hin zu Menschen. Richard Lindner, geboren in Hamburg, hatte die 1920er Jahre in Berlin erlebt und war 1941 in die USA emigriert. Hier hatte er als Illustrator und Werbegrafiker gearbeitet, jetzt widmet er sich seiner Kunst. Diese scheint vordergründig der prallen Werbeästhetik der Zeit zu entsprechen, voller expressiver Farben und einfacher Botschaften. Doch hinter dieser Fassade lauert bei Lindner der Abgrund. Die schöne neue Welt, welche nach dem Zweiten Weltkrieg mit all ihrem Plastik, Neonlicht und Sex aufwartet, ist für Lindner nunmehr ein Rückschritt. Er, der die Blase der Dekadenz der Berliner Zwanzigerjahre erlebt hat, fühlt sich immer wieder an Bertolt Brecht erinnert. Seine Farben sind zu grell, sie übertünchen schwerlich die Schattenseiten der allgegenwärtigen Verfügbarkeit. Seine Frauen sind keine Menschen mehr, sie sind konsumierbare Puppen, in beinah fetischartige Kleidung gepresst. Dabei prangert der Künstler diese Objektifizierung an, wo andere dieser Entwicklung fröhnen. Seine Männer sind halbseidene Gestalten aus dem zwielichtigen Teil der Gesellschaft.
„Two“ zeigt genau diese Welt. Beleuchtet durch Fragmente leuchtender Konsum- und Heilsversprechen sind zwei Menschen zu sehen. Wer sie sind, bleibt unklar: Sind sie ein Paar? Zuhälter und Prostituierte? Zufällige Passanten? Die Frau präsentiert der Künstler als sexuell verfügbares Objekt, geradezu karikaturenhaft überspitzt er ihre Reize ins Unreizhafte. Ihr folgt, womöglich unbemerkt, ein Herr in weißem Anzug, kein Gentleman, sondern gleichsam Gigolo und potentielle Gefahr. So wie der Hintergrund zersplittern auch die „Two“. Nicht nur gestaltet Lindner die Figuren, der Formwelt der Werbegrafik der 1960er Jahre entsprechend, schon geometrisch – ihre Brüste etwa sind sich überlagernde Kugeln statt menschlicher Körperteile –, auch verlieren die Figuren bereits die Bodenhaftung.
Lindners Sittenbild lässt uns Interpretationsspielraum und eröffnet dabei den ganzen Kosmos seiner Erfahrungen und Bildelemente. Hier zeigt er das Auseinanderfallen der Nachkriegsgesellschaft durch den Geist des Konsums, die Verfügbarkeit der Menschen als Ware und die zeitgleiche Isolation des Einzelnen in der Masse.
Spies/Loyall 2012.
Literatur:
Kramer, Hilton, Richard Lindner, London 1975, mit farb. Abb. S. 121;
Spies, Werner, Lindner, Paris 1980, mit farb. Abb. S. 104.
Ausstellung:
Watercolors & Drawings, Cordier & Ekstrom, New York 1969;
Richard Lindner, Musée national d’art moderne, Paris u.a 1974, Kat.-Nr. 72, mit s/w Abb., verso auf dem Rahmen mit dem Etikett (von der Station im Museum Boymans-van Beuningen, Rotterdam);
Richard Lindner, Fondation Maeght, Saint-Paul-de-Vence 1979, Kat.-Nr. 65, mit farb. Abb., verso auf dem Rahmen mit dem Etikett.
Provenienz:
Galerie Cordier & Ekstrom, New York, 1969, verso auf dem Rahmen mit dem Etikett;
Sammlung Max und Lynda Palevsky, Los Angeles, ca. 1969-1974;
Sidney Janis, New York;
Robin Gallery, Chicago, 1978;
Sammlung Howard Weingrow, New York;
Privatsammlung;
Galerie de la Béraudière, Genf, verso auf dem Rahmen mit dem Etikett;
Privatsammlung, Europa, 2010 bei Vorgenannter erworben.